«Besser eine Kirche der Spannungen als der Friedhofsruhe»

Ein Kreis schliesst sich: In seinem Elternhaus in Gossau, wo er zusammen mit zwei Brüdern aufgewachsen ist, verbringt der frühere St. Galler Bischof Ivo Fürer (83) seine alten Tage. Am 3. April vor sechzig Jahren ist er in der Kathedrale von St. Gallen zum Priester geweiht worden.

Josef Bossart/Kipa
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Ivo Fürer wurde vor 60 Jahren zum Priester geweiht. Von 1995 bis 2005 war er Bischof von St. Gallen. (Bild: Reto Martin)

Ivo Fürer wurde vor 60 Jahren zum Priester geweiht. Von 1995 bis 2005 war er Bischof von St. Gallen. (Bild: Reto Martin)

Ein Kreis schliesst sich: In seinem Elternhaus in Gossau, wo er zusammen mit zwei Brüdern aufgewachsen ist, verbringt der frühere St. Galler Bischof Ivo Fürer (83) seine alten Tage. Am 3. April vor sechzig Jahren ist er in der Kathedrale von St. Gallen zum Priester geweiht worden.

Als Ministrant in der Andreaskirche

Nur einen Steinwurf entfernt vom Jugendstilhaus der Familie Fürer an der Bahnhofstrasse in Gossau: die mächtige Andreaskirche aus dem 18. Jahrhundert, eines der beiden Gotteshäuser der katholischen Pfarrei Gossau. Als Ministrant in diesem Gotteshaus hat Ivo Fürer, mit viereinhalb Jahren vaterlos geworden, die ganze Fülle des kirchlichen Lebens erfahren. Aufgewachsen in einer Zeit, in welcher der «Milieu-Katholizismus» in Hochblüte stand. 8000 Einwohner und überdurchschnittlich viele geistliche Berufungen. 1954, im Jahr seiner Priesterweihe, habe man fünfzig Priester und hundert Ingenbohler Schwestern mit Herkunftsort Gossau gezählt, erzählt er. Die Nachwirkungen der schweren Kriegsjahre und die kinderreichen Familien hätten in hohem Masse zu den vielen Berufungen beigetragen.

Heraus aus dem «Treibhaus»

Den früheren Zeiten trauert der ehemalige Bischof allerdings nicht nach. Er, der ab 1949 an der Universität Innsbruck bei Karl Rahner Theologie studiert hatte, habe 1953 bei seiner Rückkehr in die Heimat schon ein bisschen das Gefühl gehabt: «Da komme ich ins Mittelalter zurück.» Das damalige katholische Milieu sei zwar gewiss eine Hilfe dabei gewesen, gemeinsam den Glauben zu bekennen. Aber dann sei definitiv eine neue Epoche angebrochen, und das sei gut gewesen: Hinaus aus dem «Treibhaus» – und Zeit, die Menschen zu einem persönlichen Glauben hinzuführen!

Das Zweite Vatikanische Konzil (1962 bis 1965): Er begleitet den St. Galler Bischof Josephus Hasler als Mitarbeiter an die grosse Kirchenversammlung, lernt zu begreifen, wie sehr die Kirche ein Zusammenspiel von Weltkirche und Ortskirche sein muss. Ab 1969 dann, inzwischen Bischofsvikar geworden, bringt Ivo Fürer zusammen mit den Bischofsvikaren der anderen Bistümer die Synode 72 auf den Weg, die den Konzilsaufbruch in die Schweizer Pfarreien hineintragen soll.

Auch Bischöfe müssen umdenken

1977 wird Ivo Fürer zum Generalsekretär des Rates der Europäischen Bischofskonferenzen (CCEE) mit Sitz in St. Gallen gewählt. Die Aufgabe ist herausfordernd, er hat Kontakt mit den Bischöfen in Ost und West, reist immer wieder auch in die kommunistischen Länder jener Zeit, bleibt aber dennoch im Bistum St. Gallen verwurzelt. Stark sei der CCEE damals gewesen, habe mit Präsidenten wie den Kardinälen Roger Etchegaray (Paris), Basil Hume (London) oder Carlo Maria Martini (Mailand) grosse Wirkung entfalten können, sagt er.

Und auch die Kollegialität der Bischöfe sei immer wieder ein Thema gewesen. Dazu hat Ivo Fürer nach wie vor eine dezidierte Meinung: «Zentralismus behindert das Wirken des Heiligen Geistes! Bischöfe müssten ihre Verantwortung selbständiger wahrnehmen können. Das setzt allerdings eine gewisse Reife auch bei den Bischöfen voraus. Es braucht ein Umdenken nicht nur der Kurie, sondern auch bei ihnen.»

Die CCEE-Zeit beschäftigt ihn immer noch: Einen Tag pro Woche verbringt er jeweils im Ordinariat des Bistums St. Gallen, um anhand der zahlreichen Akten seine Tätigkeit als CCEE-Generalsekretär von 1977 bis 1995 aufzuarbeiten.

Es folgt ab 1995 bis 2005 die Zeit als Bischof von St. Gallen. Er wählt als Wahlspruch «Dem Volke Gottes dienen». Diese Devise zieht sich wie ein roter Faden durch seine Amtszeit. Legendär seine Mittagstische mit Gästen in immer wieder anderen Zusammensetzungen.

Den Zentralismus eindämmen

Papst Franziskus? Er habe eine ähnliche Ausstrahlung wie der Konzilspapst Johannes XXIII., vermöge mit seiner Person die Menschen unmittelbar anzusprechen, sagt Ivo Fürer. Und: «Papst Franziskus geht vom Menschen und vom konkreten Christen aus – nicht von Dogmen.» Nach Konzil und Synode 72 hätten die vorherigen Päpste Johannes Paul II. und Benedikt XVI. doch eher retardierend gewirkt. Seine grösste Hoffnung: dass mit Papst Franziskus der kirchliche Zentralismus eingedämmt wird.

Verständnis für die Proteste

Der Kundgebung von Gläubigen, die am 9. März in St. Gallen ihrem Unmut über die Zustände im Bistum Chur Ausdruck verliehen («Es reicht!»), bringt er durchaus Verständnis entgegen. Mehr noch: Es könne für die Kirche in der Schweiz nur gut sein, dass solche Kritik zum Ausdruck habe kommen können – «während der Synode 72 habe ich jeweils gesagt: besser eine Kirche der Spannungen als der Friedhofsruhe.»

Eine Prognose bezüglich Bistum Chur? Die Forderung nach einem Administrator für das Bistum Chur werde vermutlich nicht erfüllt, und Bischof Vitus Huonder (71) werde wohl noch bis 75 im Amt bleiben, schätzt Ivo Fürer vorsichtig. Bischof Vitus sei wohl einer, der eher Vorschriften verwirklichen möchte, als jemand, der die Menschen kenne und sie aus dieser Kenntnis heraus zum Glauben führen wolle.