Kommentar

Provozierender Pragmatismus

«Wir schaffen das», hatte Angela Merkel vor einem Jahr als Motto ausgegeben. Doch das Land ist gerade nach den jüngsten Attentaten nicht mehr so davon überzeugt. Die Kanzlerin ficht das nicht an.

Christoph Eisenring
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Die Polizei sichert den Tatort nach dem Anschlag in Ansbach. (Bild: Michaela Rehle / Reuters)

Die Polizei sichert den Tatort nach dem Anschlag in Ansbach. (Bild: Michaela Rehle / Reuters)

Unser Nachbarland ist aufgewühlt. Die Anschläge in München, Würzburg und Ansbach haben Deutschland stark verunsichert. Der Schock sitzt ähnlich tief wie nach den Übergriffen durch junge Immigranten auf Frauen während der Silvesternacht in Köln und Hamburg. Die Stimmung hat sich verändert. Man merkt es an sich selbst. So befällt einen ein mulmiges Gefühl, wenn man die Kinder alleine in die Stadt schickt, wo sie im Park mit anderen an einer Holzstadt werkeln. Auch das Public Viewing während der Europameisterschaft hat seine Attraktivität verloren. 83 Prozent der Deutschen halten die Zuwanderung und Integration denn auch für eine der am dringendsten zu lösenden Aufgaben – vor einem Jahr waren diese Bereiche von 35 Prozent der Leute genannt worden (in der Schweiz beträgt der Anteil 50 Prozent). Dabei wurde diese Umfrage noch vor den jüngsten Gewalttaten durchgeführt.

Kanzlerin Angela Merkel konnte die Stimmung im Land nicht länger ignorieren. Am Donnerstag unterbrach sie ihre Ferien in der Uckermark und zog ihre traditionelle Sommerpressekonferenz in Berlin vor. Merkel ist seit elf Jahren im Amt, hat die Finanz- und die Euro-Krise ausgesessen. Ihre Auftritte haben schon deshalb etwas Beruhigendes, weil sie scheinbar schon immer da war. In zwei Fällen – Würzburg und Ansbach – hatten die Attentate einen islamistischen Hintergrund und waren die Täter Flüchtlinge. Hier wurde Merkel deutlich: Diese zwei Männer hätten das Land verhöhnt, das sie aufgenommen habe. Den verunsicherten Menschen sei die Regierung etwas schuldig.

Ihr Auftritt wäre eine Gelegenheit gewesen, den Kompass in der Flüchtlingsfrage etwas zu justieren und wenn nicht Fehler, so doch vielleicht Versäumnisse zuzugeben. Doch Merkel bewegte sich kein Jota. Vielmehr gab sie sich schon fast provozierend pragmatisch: Wenn es ein Problem gibt, dann arbeitet man es ab. So stellte sie einen Neun-Punkte-Plan vor, doch die meisten Massnahmen – effizienteres Sammeln von Hinweisen zur Radikalisierung, Bemühungen um schnellere Rückführung abgewiesener Asylbewerber – tönen nicht neu. Merkel hält ihren Kurs für richtig: Sie habe im Herbst, als Deutschland die Grenzen öffnete und Hunderttausende von Flüchtlingen ins Land liess, nach bestem Wissen und Gewissen gehandelt.

Vor einem Jahr hatte Merkel die Devise «Wir schaffen das» für das Land ausgegeben. Seit Anfang 2015 sind denn auch 1,3 Millionen Flüchtlinge gekommen. Die Blockierung der Balkanroute und das Abkommen zwischen der EU und der Türkei haben Deutschland etwas Luft verschafft, doch die Zahlen bleiben hoch. Und selbst jetzt noch sind etwa 150 000 Flüchtlinge nicht einmal registriert. Zudem kamen rund 60 000 Minderjährige ohne Begleitung ins Land; einer von ihnen war der Attentäter von Würzburg. Die Hoffnung war gross, dass gerade die vielen Jungen rasch in den Arbeitsmarkt integriert werden können. Doch sie sind oft traumatisiert und bedürfen besonderer Fürsorge. Die Hürden am Arbeitsmarkt wurden gesetzlich zwar gesenkt, aber es wird viel schwieriger als gedacht. Die dreissig kotierten grossen Firmen des DAX haben laut der «Frankfurter Allgemeinen Zeitung» nur 54 Flüchtlinge eingestellt (und bieten 2700 Praktikumsplätze an).

Was letzten Herbst geschah, werde sich nicht wiederholen, machte Merkel immerhin klar. Doch über eine Obergrenze will sie weiterhin genauso wenig diskutieren wie über eine Politik, die die Grenzen wieder national sichert und damit die Kontrolle über die Einwanderung an sich zöge. Doch müsste dies nicht eine Option sein, solange die Verteilung der Flüchtlinge innerhalb Europas nicht funktioniert? Deutschland dürfe sich nicht aus seiner humanitären Verantwortung stehlen, sagte Merkel gleich mehrfach. Daran zweifelt niemand. Vielmehr fühlt man sich bei solchen Aussagen etwas an die «Energiewende» erinnert, mit der Deutschland international Vorbild sein will, letztlich aber vor allem sich selbst Kosten aufbürdet. Deutschland kann weder das Weltklima retten noch alle Menschen aufnehmen, die kommen wollen.

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