Merkels Mutlosigkeit

Das wirtschaftspolitische Sündenregister der Regierung Merkel ist lang. Dennoch setzt die Wirtschaft auf eine Fortsetzung der Kanzlerschaft. Merkel habe das Land gut durch Krisen gesteuert, heisst es.

Christoph Eisenring, Berlin
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Ein bekannter Kopf und eine vorhersehbare Marschrichtung sind Unternehmern lieber als riskante Experimente. (Bild: M. Schreiber / AP)

Ein bekannter Kopf und eine vorhersehbare Marschrichtung sind Unternehmern lieber als riskante Experimente. (Bild: M. Schreiber / AP)

Die Titel tönen fast ein wenig verzweifelt: «Zeit für Reformen», «Mehr Vertrauen in Marktprozesse», «Gegen eine rückwärtsgewandte Wirtschaftspolitik». So überschrieben die fünf Wirtschaftsweisen, ein Beratergremium der deutschen Regierung, in den vergangenen Jahren ihre ökonomischen Gutachten. Bei Kanzlerin Angela Merkel bissen sie damit aber stets auf Granit. Die Regierung denke und fühle, dass sie permanent Reformen angehe, sagte sie Anfang November bei der Übergabe des jüngsten Gutachtens.

Hort der Stabilität

Die Kanzlerin, die am Sonntag erklärte, eine vierte Amtszeit anzustreben, wird die gute Verfassung der Wirtschaft zu ihren Gunsten anführen. Die Arbeitslosenquote hat sich laut dem Währungsfonds seit ihrem Amtsantritt 2005 von 11% auf 4,6% mehr als halbiert. Und die reale Wirtschaftsleistung pro Kopf ist über diesen Zeitraum um gut 15% gewachsen. Deutschland hat also unter Merkel eine gute Phase hinter sich – die allerdings auch deshalb so passabel aussieht, weil andere grosse Euro-Länder miserabel unterwegs sind.

Die Wortmeldungen aus der Wirtschaft nach ihrer Ankündigung fielen denn auch schmeichelhaft aus. Der Präsident der Arbeitgeberverbände, Ingo Kramer, verwies auf Deutschland als Hort der Stabilität. Merkel habe wesentlich dazu beigetragen, indem sie das Land mit Besonnenheit durch eine Zeit voller Krisen gesteuert habe. Und der Ende Jahr abtretende Präsident des Bundesverbandes der Deutschen Industrie, Ulrich Grillo, warb schon Anfang Oktober für die Kanzlerin. Am Tag der deutschen Wirtschaft sagte er, er wünsche Merkel viel Kraft und Erfolg auf der politischen Bühne – die er sich nicht ohne sie vorstellen könne.

Die Wirtschaft hat sich mit Merkel arrangiert, die Alternative einer rot-rot-grünen Koalition will man selbstredend nicht. Man setzt auf die «verlässliche Partnerin in unruhigen Zeiten», wie Kramer es ausdrückte.

Den Rückwärtsgang eingelegt

Diese Nähe zwischen Wirtschaft und Politik hat schon fast etwas Unheimliches, weil die Liste der wirtschaftspolitischen Sünden unter der Regierung Merkel lang ist. Sie hatte 2005 zunächst Glück, hatte sich vor ihr doch die rot-grüne Koalition unter Kanzler Schröder mit Arbeitsmarktreformen die Hände schmutzig gemacht. Für gewisse Ökonomen genauso wichtig waren die in den 1990er Jahren einsetzende Phase der Lohnzurückhaltung und die Öffnung der Tarifverträge. Deutschland gelang es so, international wieder konkurrenzfähig zu werden. Zwar war zunächst auch die erste schwarz-rote Regierung noch mutig, leitete sie doch das Rentenalter mit 67 ein. Allerdings war 2006 auch die Mehrwertsteuer um 3 Prozentpunkte auf 19% erhöht worden.

Von der schwarz-gelben Koalition ist ausser der Liberalisierung der Fernbusse wenig im kollektiven Gedächtnis hängen geblieben. Nach der Neuauflage der grossen Koalition 2013 wurde dann aber der Rückwärtsgang eingelegt. Mit der Mietpreisbremse, dem nationalen Mindestlohn oder den Frauenquoten für Aufsichtsräte deutscher Kapitalgesellschaften griff die schwarz-rote Regierung direkt in die Märkte ein. Die Rente mit 63 für langjährige Beitragszahler verwässerte zudem die Rentenreform von 2007. Damit bestätigt sich der Eindruck, dass wirtschaftlich gute Zeiten schlechte Zeiten für Reformen sind.

Kostspielige «Energiewende»

Dass eine allfällige Neuauflage von Schwarz-Rot 2017 den Reform-Elan anstacheln wird, ist kaum zu erwarten. Zwar erklärte Merkel am Sonntagabend, man müsse sich darüber Gedanken machen, wie die Industrie auch künftig 20% zur Wertschöpfung des Landes beitrage. Sie hatte dabei die Digitalisierung im Kopf und Investitionen in Bildung. Doch eine naheliegende Hürde erwähnte sie nicht: die Energiewende. Da Deutschland hier international Musterknabe sein will, verteuert sich die Produktion im Vergleich zu anderen Ländern. Für die Einspeisevergütungen müssen die deutschen Stromkunden dieses Jahr 23 Mrd. € ausgeben. Dazu kommen hohe Kosten für den Bau von Übertragungsnetzen unter der Erde.

Kurzzeitig hatte offenbar das Wort der «Modernisierungsverlierer» Eingang in den Antragsentwurf für den CDU-Parteitag vom Dezember gefunden, um die sich Merkels Partei stärker kümmern wolle. Welche Massnahmen genau gemeint sind, blieb offen. Zwar sprach sich Merkel gegen Abschottung aus und erklärte, die Globalisierung liesse sich nicht zurückdrehen. Dennoch hat man nicht den Eindruck, dass Freihandel in einer neuerlichen grossen Koalition oberste Priorität genösse.

Wo bleibt die Entlastung?

Die Steuereinnahmen des Bundes sind seit 2005 von 190 Mrd. € auf über 291 Mrd. € gestiegen – ein Plus von über 100 Mrd. €. Gleichzeitig sind dank der äusserst lockeren Geldpolitik der Europäischen Zentralbank die Zinsausgaben des Bundes von einem Höchstwert von 40 Mrd. € im Jahr 2008 auf etwa die Hälfte gesunken. Gewiss, es gibt Lasten wie die Flüchtlingsbetreuung, die einige Milliarden pro Jahr kosten werden. Doch angesichts eines solchen Zuwachses erstaunt es schon, dass sich die Parteien nicht mit Steuersenkungsplänen überbieten, die Bürger nicht vehementer eine Entlastung fordern und auch aus Kreisen der Wirtschaft Merkels neuerliche Kandidatur als «alternativlos» bezeichnet wird. Die Staatsverschuldung befindet sich übrigens heute genau dort, wo Merkel 2005 angefangen hatte: bei gut zwei Dritteln der Wirtschaftsleistung.