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Das Mirakel von Medjugorje

Dank einer Marienerscheinung entwickelte sich ein bosnisches Winzerdorf seit 1981 zu einem stark frequentierten Wallfahrtsort. Für seine Bewohner wird das langsam zum Fluch

Unbarmherzig flirrt die Hitze über dem rötlichen Gestein. Grillen zirpen im Gestrüpp, während Pilger Michal schnaufend die kahle Anhöhe erklimmt. Nein, schön sei Medjugorje sicherlich nicht, aber dennoch pilgere er alle zwei Jahre zu dem Wallfahrtsort in Bosnien-Herzegowina, erzählt der beleibte Pole aus Gorzow. Die "geistliche Läuterung" lasse ihn die Nähe zum Ort der legendären Marienerscheinung suchen, sagt Michal - und wischt sich den Schweiß von der Stirn. Vom Vatikan sei Medjugorje zwar noch nicht anerkannt: "Aber zumindest die polnische Kirche organisiert schon jetzt regelmäßig Pilgerfahrten hierher."

Vor dem Bildnis der Gottesmutter knien auf dem "Erscheinungshügel" im Gebet versunkene Gläubige. Ein Priester stimmt mit sachter Stimme ein Ave-Maria an. In die nahen Felsen haben Pilger Grabtafeln anbringen lassen und Fotos verstorbener oder hilfebedürftiger Angehöriger gesteckt. Sie suche den Wallfahrtsort schon 24 Jahre auf, erzählt die Engländerin Pat Robinson: "Nirgendwo fühlt man sich Maria so nahe wie hier." Als die Britin 1984 nach Medjugorje pilgerte, nahmen die Einheimischen die Pilger noch privat bei sich auf. "Damals gab es nur ein hölzernes Plumpsklo", so Robinson. Als sie ihre Gastgeber zwei Jahre später wieder aufsuchen wollte, konnte sie deren Haus bereits nicht mehr finden: "Medjugorje hat sich schnell verändert."

Kräne überragen die Neubausiedlungen nahe der schlichten St.-Jakobus-Kirche. Medjugorje boomt - und baut. Auf bis zu 1500 Euro sind mittlerweile die Quadratmeterpreise für eine Wohnung in dem Nest geklettert. Inzwischen harren in dem 4300-Einwohner-Dorf und in den angrenzenden Weilern über 15 000 Gästebetten der Besucher. Mit knapp einer Million Übernachtungen im Jahr hat sich Medjugorje ("Zwischen den Bergen") von einem staubigen Winzerdorf zu einem der populärsten Touristenziele in Südosteuropa gewandelt.

Eine Erscheinung machte es möglich. Am 24. Juni 1981 berichteten sechs Jugendliche aus dem Dorf, dass ihnen auf dem nahen Hügel die Mutter Gottes mit einer Friedensbotschaft erschienen sei. "Unfassbar" seien die damaligen Ereignisse nicht nur für das Dorf, sondern auch für ihn selbst gewesen, erinnert sich in Medjugorje Pater Tomislav, der damals als Priester in einem Nachbardorf arbeitete: "Die Erscheinung kam wie ein Blitz aus dem Himmel, überrumpelte uns völlig." Eine Woche zuvor sei das Postamt des Dorfes ausgebrannt. Doch obwohl es kaum Kommunikation mit der Außenwelt gab, habe sich die Nachricht von der Erscheinung im damaligen Jugoslawien "wie ein Lauffeuer verbreitet", erzählt der promovierte Franziskanerpater: "Am Sonntag nach der Erscheinung standen bereits 15 000 Menschen auf dem Berg."

Einen "normalen Eindruck" hätten die Jugendlichen auf ihn gemacht, erzählt der Geistliche mit dem gescheitelten Schopf. Streng habe er sie gefragt: "Ich sagte, wenn das nur ein Jux ist, sagt das lieber gleich. Doch sie beharrten auf ihren Berichten." Politiker und Medien im sozialistischen Jugoslawien hätten damals alles getan, um die Jugendlichen einzuschüchtern: "Doch die Kinder blieben standhaft. Die Menschen kamen und kamen - und erfuhren hier echte Bekehrungen."

Doch nicht nur Gläubige pilgerten zu dem Wallfahrtsort. Ab 1986 hätten die ersten Leute begonnen, in Medjugorje nicht nur geistliche Stärkung zu suchen, sondern auch Mammon zu wittern, berichtet Pater Tomislav. Der Kommerz sei in jedem Wallfahrtsort derselbe: "Wo Gott eine Kirche errichtet, baut auch der Teufel sein Tempelchen." Tatsächlich kam es zu Beginn des Bosnien-Krieges 1992 in Medjugorje zu einem "Kleinen Krieg": In einer Fehde lieferten sich drei Familien einen tödlichen Verteilungskampf um das lukrative Pilgergeschäft. Mindestens 140 Menschen kosteten die Kämpfe das Leben.

Doch der Krieg ist in Medjugorje längst vergessen. Schulter an Schulter warten in den Auslagen der unzähligen Souvenirshops Maria-Statuen in allen Größen auf ihre Käufer. Auf Shampooflakons und Feuerzeugen, in Stein und Plastik, als Medaillon und Kühlschrankmagnet - die Muttergottes ist in Medjugorje allgegenwärtig. 80 Souvenirläden, 70 Taxi-Chauffeure, mehrere Dutzend Hotels und Restaurants zählt das Pilgerdorf. Früher sei Medjugorje ein "sehr armes Dorf" gewesen, das vor allem vom Wein- und Tabakanbau gelebt habe, erzählt Zelkjo Vasilj, der Leiter der regionalen Tourismus-Vereinigung. Nun lebten hier alle mehr oder weniger vom Tourismus.

In der ganzen Welt sei Medjugorje bekannt, freut sich im Rathaus von Citluk, zu deren Gemarkung der Wallfahrtsort gehört, Bürgermeister Ivo Jerkic. Aus Italien und Irland kämen die meisten Besucher, Ausländer würden sich auch auf dem lokalen Immobilienmarkt engagieren. "Das Bild verändert sich", konstatiert der Bürgermeister, der als Student einst selbst noch in Deutschland jobbte: "Früher gingen die Leute aus Medjugorje zur Arbeit ins Ausland. Nun kommt die Welt zu uns."

Die meisten Besucher von Medjugorje hätten eine geringe oder mittlere Schulbildung, berichtet Zelkjo Vasilj. Hochausgebildete Spitzenverdiener würden den Pilgerort hingegen kaum ansteuern, erklärt er, warum der Ort vor allem preisgünstige Restaurants und Herbergen zählt. Doch nicht nur weil "viele Geschäftsleute von außerhalb" in Medjugorje investierten, habe das Dorf das frühere Gemeinschaftsgefühl "ein wenig verloren". Nicht alle der Bewohner hätten den "großen ökonomischen Sprung nach vorne" so recht verkraftet, sagt der frühere Sozialpädagoge. Für manche sei der Wandel "zu schnell" verlaufen: "Menschen, die gestern noch hungerten, wurden plötzlich reich. Persönlichkeiten veränderten sich. Einige denken nur noch an den eigenen Vorteil - und nicht mehr an das Interesse der Gemeinschaft."

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Sich bekreuzigend, verharren die Gläubigen vor der Marienstatue in der Jakobus-Kirche. Geduldig stehen die Pilger vor den Beichtstühlen Schlange. Geld machten in Medjugorje nur die Geschäftsleute von außerhalb, der Kirche blieben nur die Almosen, klagt Pater Tomislav. Die Tourismus-Steuer von einem Euro pro Übernachtung fließe ausschließlich den regionalen und nationalen Steuerbehörden zu, jammert Bürgervater Jerkic: "Die Stadt bleibt auf den Kosten für den Unterhalt der Infrastruktur sitzen."

Leise summen in dem Gotteshaus die Klimaanlagen. Die Menschen verspürten in Medjugorje eine Wärme, erklärt Pater Tomislav die ungebrochene Zugkraft des Pilgerorts. Im Bischofspalast zu Sarajevo werde bereits über die Einsetzung einer offiziellen Untersuchungskommission des Vatikans zur Überprüfung einer möglichen Anerkennung der Marienerscheinungen "gemunkelt", berichtet der Geistliche hoffnungsfroh. Die Kirche pflege zwar "eher in Jahrhunderten als in Monaten und Tagen" zu denken. Doch um 1,6 Millionen erteilte Kommunionen im vergangenen Jahr komme auch der Vatikan nicht mehr herum. Zum Abschied zitiert der Geistliche einen deutschen Publizisten: "Medjugorje hat niemandem geschadet - aber vielen geholfen."

Ob mit oder ohne päpstliche Anerkennung: Tatsächlich hat "Gospa" Maria dem Wallfahrtsort schon jetzt einen für Bosnien-Herzegowina erstaunlichen Wohlstand beschert. Dank "des Himmelssegens der Erscheinungen" sei es um Medjugorje wesentlich besser bestellt als um die meisten anderen Kommunen der Region, sagt Fremdenverkehrsamt-Leiter Vasilj. Die Frage sei jedoch, ob das Leben seiner Mitbürger tatsächlich "besser oder schlechter" geworden sei: "Was ist der Preis für die Entwicklung?" Jedes Jahr breiteten die Hoteliers des Ortes die Bettenkapazität um weitere 500 aus: "Doch die Leute sollten vielleicht auch einmal eine Pause einlegen - und ihr Leben nicht nur durch das Streben nach einem größeren Umsatz lenken lassen."

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