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Politik

"Luther steckt tiefer in der katholischen Tradition, als mancher denkt"

Kardinal Lehmann über die religiösen Wurzeln des Reformators und das schwierige Verhältnis zur evangelischen Kirche

DIE WELT: Herr Kardinal, vor zwei Jahren sagten Sie in Bonn: "Es kann einem die Schamröte ins Gesicht treiben, wie Luther 1817 in das Prokrustesbett eines Nationalhelden gezwängt oder wie er 1917 für manche Durchhalteparolen benützt worden ist." 2017 steht die 500-Jahr-Feier der Reformation an, die EKD hat eine "Reformationsdekade" ausgerufen. Mit welchen Gefühlen sehen Sie dem entgegen?

Kardinal Karl Lehmann: Unbehagen über die Luther-Gedenkjubiläen ist auch in den evangelischen Kirchen vorhanden. Man erinnert sich, dass solche Feiern immer wieder triumphalistisch ausgefallen sind. Deshalb bedarf es besonderer Sensibilität, vor allem in unserer ökumenischen Situation, damit wir nicht in überholte Positionen zurückfallen.

DIE WELT: Sehen Sie die Gefahr einer Instrumentalisierung Luthers?

Lehmann: Im Ganzen nicht. Aber natürlich gibt es immer wieder störende Töne. Wenn etwa fast alle Anstöße in der Aufklärung, in der Kultur, in der Sozialpolitik auf Luther zurückgeführt werden. Das stimmt auch nicht überein mit einer neuen, sehr positiven Etappe der Luther-Forschung, die uns zeigt: Der Reformator steht mit beiden Füßen auch tief im Mittelalter. Er ist tief verwurzelt in der Mystik, er hat bei aller Polemik seine Herkunft vom Mönchtum nie verleugnet, er steckt umfassender in der katholischen Tradition, als mancher denkt. Dies könnte es auch uns leichter machen, den Platz Luthers in der Reformation und in der Kirchengeschichte zu bestimmen.

DIE WELT: Luther als die Tür zur Freiheit: Diese Sicht teilen Sie nicht?

Lehmann: Er wird wohl deshalb so gefeiert, weil er den Kampf gegen die Autorität des Papstes aufgenommen hat und sich nicht einschüchtern ließ. Dass er einen epochengeschichtlichen Einschnitt personifiziert, kann man nicht bestreiten. Aber der Held der Freiheit im weitesten Sinn ist er nicht. Das zeigt sein Verhalten gegenüber anderen Reformatoren, den Bauern bei ihrem Aufstand, Andersgläubigen, zum Beispiel den Wiedertäufern, aber auch gegenüber Katholiken und Juden. In den lutherischen Territorien wurde die frühzeitliche Religionsfreiheit kaum beachtet, es herrschte allenfalls eine mildere Form von Toleranz als sonst im Reich, aber da ist noch viel "Mittelalter" im Spiel.

DIE WELT: Nochmals, wie deuten Sie persönlich Luther?

Lehmann: Ich habe keine griffige Kurzformel. Ich sehe ihn als eine große Gestalt der Erneuerung, einen überaus wortgewaltigen Prediger. Aber ich tue mich mit der Persönlichkeit Luthers schwer. Dieses aufbrausende, ungestüme, auch widersprüchliche Wesen! Bei aller Annäherung an so etwas wie eine Hochschätzung habe ich die Frage, ob Luther vielleicht auch viel hätte erreichen können, wenn er mit seinem Mut zum Streit in der alten Kirche geblieben wäre. Am Ende kommt es auf die Solidarität mit der ganzen Kirche an, ja auch auf so etwas wie Gehorsam. Ich weiß, dass viele anders denken.

DIE WELT: Lassen sich im Jubiläumsjahr 2017 vielleicht neue Türen zu einem besseren Luther- und Reformationsverständnis öffnen?

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Lehmann: Wir in Deutschland verbinden Reformation natürlich mit Luther. In unseren Nachbarländern ist das schon anders, da denkt man auch an Calvin, Zwingli und andere. Es sagen auch evangelische Bischöfe: Wir wollen eine Reformationsdekade, nicht eine Lutherdekade. Im Ökumenischen Arbeitskreis evangelischer und katholischer Theologen gehen wir intensiv der Frage nach der Wertung der Reformation und ihren Folgen nach. Dazu gehört, dass in der Reformationsdekade auch viele Verwerfungen innerreformatorischer Art zur Sprache kommen müssen.

DIE WELT: Sie sehen dieser Dekade trotz Bedenken optimistisch entgegen?

Lehmann: Durchaus. Die ökumenischen Partner kennen sich. Sie verstehen sich, haben viele Gemeinsamkeiten neu entdeckt und können auch Unterschiede ertragen. Wir haben viele Chancen. Die Dekade selbst wirkt aber kein Wunder.

DIE WELT: Die Kirchenlehre gehört zu den schwierigsten Themen im ökumenischen Dialog. In evangelischen Statements wird eine "versöhnte Verschiedenheit" propagiert. Können Sie damit etwas anfangen?

Lehmann: Dies ist ein wunderbares Wort, es hat auch einen guten spirituellen Ton. Aber es ist auch eine Denkfigur, die stark aus dem lutherischen Denken herkommt, weil man sagt, wir sind in den wesentlichen Dingen eins und versöhnt, also kann man andere Dinge in ihrer Unterschiedlichkeit so stehen lassen. Die lutherische Lehre sagt nämlich, wo recht gepredigt wird, wo die Sakramente korrekt dargereicht werden, da ist Kirche - und das genügt dann. Wir Katholiken tun uns da schwerer, weil wir meinen, dass ein gewisses Grundeinvernehmen vorhanden sein muss im fundamentalen Verständnis des kirchlichen Amtes.

DIE WELT: 2009 hat eine Studie aus der EKD-Zentrale Ihrer Kirche vorgeworfen, sie verhalte sich wie ein "angeschlagener Boxer". Sind die atmosphärischen Störungen obsolet?

Lehmann: Das war ein unausgereiftes Papier, eine Panne, wie sie in jeder Großorganisation auftreten kann. Aber hinter der Panne steht natürlich auch die Frage: Wie kann man die Berechtigung der eigenen Existenz noch besser aufzeigen? Man lügt sich etwas in die Tasche, wenn man nicht einräumt, dass es bei aller Gemeinsamkeit in der Ökumene natürlich auch einen Wettbewerb gibt. Eine gewisse Konkurrenz. Solange das ein Wettstreit im Guten ist, lässt sich dagegen wenig einwenden. Und da bin ich nach meinen jahrelangen Kontakten, zuletzt mit Wolfgang Huber, seinen Vorgängern und nun Präses Nikolaus Schneider durchaus hoffnungsvoll.

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DIE WELT: In die "Reformationsdekade" fällt das 50-jährige Jubiläum des Zweiten Vatikanischen Konzils (1962-1965). Bischöfe aus aller Welt bekannten sich damals zur Religionsfreiheit, ein Thema, über das gerade in unseren Tagen gestritten wird.

Lehmann: Es wird uns in der Tat in nächster Zeit beschäftigen. Auch im eigenen Lager gibt es Probleme, weil die Traditionalisten meinen, wir hätten den eigenen Wahrheitsanspruch vergeudet. Da gilt es einiges klarzustellen. Das Thema wird uns aber auch von Politikern aufgedrängt, die die Frage nach dem Ort von Kirche und Religion in einer pluralistischen Gesellschaft neu stellen wollen. Ich gewinne vermehrt den Eindruck, dass man die Religionsfreiheit heute oft nur als negative Religionsfreiheit versteht. Toleranz dieser Art ist aber nur die eine Hälfte verfassungsmäßig garantierter Religionsfreiheit. Man darf die positive Religionsfreiheit, die auch auf Wirken von Religion im öffentlichen Raum setzt, nicht ausblenden. Stimmen aus der FDP aus jüngster Zeit erinnern mich an Positionen des 19. Jahrhunderts. Da ist ein klares Gespräch fällig.

Das Gespräch führte Gernot Facius.

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