Newman: Zweideutigkeit als Mutter der Weisheit - aber
John Henry Kardinal Newman spekulierte in der Aprilausgabe 1839 der „British Critic“ – noch als Anglikaner – über das kommende Zeitalter. Er täuschte sich gründlich. Newman glaubte, dass die religiösen Ideen des kommenden Zeitalters klar formuliert sein würden:
„Heutzutage ist Verschwommenheit die Mutter der Weisheit. Wer ein halbes Dutzend allgemeiner Behauptungen auszusprechen vermag, die nur deshalb einander nicht aufheben, weil sie zu Gemeinplätzen verdünnt sind, wer geschickt genug ist, gleichsam ohne Stützpunkt und Stange zwischen Gegensätzen das Gleichgewicht zu halten, wer nie eine Wahrheit ausspricht, ohne sich gegen die Voraussetzung zu verwahren, daß das Gegenteil ausgeschlossen sei – wer sich zu dem Glauben bekennt, daß die Schrift die einzige Autorität sei, daß man aber auch der Kirche beizupflichten habe, daß der glaube allein rechtfertige, jedoch nicht ohne die Werke, daß die Gnade nicht von den Sakramenten abhänge, jedoch ohne dieselben nicht zuteil werde, daß Bischöfe durch göttliche Verordnung eingesetzt seien, daß aber jene, die keine Bischöfe haben, dieselbe religiöse Stellung einnehmen wie die anderen, die Bischöfe haben – das ist der rechte Mann und die Hoffnung der Kirche.
Das ist es, was der Kirche angeblich fehlt: keine Parteimänner sondern verständige gemäßigte, nüchterne und urteilsfähige Persönlichkeiten, die sie durch den Kanal des Nichtsmeinens zwischen der Scylla und Charybdis von Ja und Nein hin durchzuführen wissen.
Aber, dieser Zustand kann nicht von Dauer sein, wenn die Menschen lesen und denken können. Man wird die Stellung, die man als echte Kirche Englands oder orthodoxen Protestantismus bezeichnet, nicht halten können. Es ist unmöglich, immer auf einem Bein zu stehen oder ohne Stuhl zu sitzen, mit zusammengebundenen Füßen zugehen oder wie die Hirsche des Tityrus in der Luft zu grasen.
Man wird sich zu dieser oder jener Meinung bekennen müssen, aber sie wird in jedem Fall folgerichtig sein. Mag sie Liberalismus oder Erastianismus, Papismus oder Katholizismus heißen, es wird eine wirkliche Meinung sein.“
Als Ausweg setzt Newman noch (vor seiner Konversion) auf die Via Media – einen Mittelweg zwischen Katholizismus und Protestantismus. Er bemerkte, dass der von ihm bekämpfte herrschende Liberalismus „ein zu kaltes Prinzip ist, um die Massen in Bewegung zu setzen“. Doch bei den Evangelikalen / Puritanisten fehle „eine intellektuelle Grundlage, eine innere Idee, ein Prinzip der Einheit, eine Theologie“.
Übersetzung des Textes aus der Apologia Pro Vita Sua von Kardinal Newman durch Maria Knöpfler, 1922.
„Heutzutage ist Verschwommenheit die Mutter der Weisheit. Wer ein halbes Dutzend allgemeiner Behauptungen auszusprechen vermag, die nur deshalb einander nicht aufheben, weil sie zu Gemeinplätzen verdünnt sind, wer geschickt genug ist, gleichsam ohne Stützpunkt und Stange zwischen Gegensätzen das Gleichgewicht zu halten, wer nie eine Wahrheit ausspricht, ohne sich gegen die Voraussetzung zu verwahren, daß das Gegenteil ausgeschlossen sei – wer sich zu dem Glauben bekennt, daß die Schrift die einzige Autorität sei, daß man aber auch der Kirche beizupflichten habe, daß der glaube allein rechtfertige, jedoch nicht ohne die Werke, daß die Gnade nicht von den Sakramenten abhänge, jedoch ohne dieselben nicht zuteil werde, daß Bischöfe durch göttliche Verordnung eingesetzt seien, daß aber jene, die keine Bischöfe haben, dieselbe religiöse Stellung einnehmen wie die anderen, die Bischöfe haben – das ist der rechte Mann und die Hoffnung der Kirche.
Das ist es, was der Kirche angeblich fehlt: keine Parteimänner sondern verständige gemäßigte, nüchterne und urteilsfähige Persönlichkeiten, die sie durch den Kanal des Nichtsmeinens zwischen der Scylla und Charybdis von Ja und Nein hin durchzuführen wissen.
Aber, dieser Zustand kann nicht von Dauer sein, wenn die Menschen lesen und denken können. Man wird die Stellung, die man als echte Kirche Englands oder orthodoxen Protestantismus bezeichnet, nicht halten können. Es ist unmöglich, immer auf einem Bein zu stehen oder ohne Stuhl zu sitzen, mit zusammengebundenen Füßen zugehen oder wie die Hirsche des Tityrus in der Luft zu grasen.
Man wird sich zu dieser oder jener Meinung bekennen müssen, aber sie wird in jedem Fall folgerichtig sein. Mag sie Liberalismus oder Erastianismus, Papismus oder Katholizismus heißen, es wird eine wirkliche Meinung sein.“
Als Ausweg setzt Newman noch (vor seiner Konversion) auf die Via Media – einen Mittelweg zwischen Katholizismus und Protestantismus. Er bemerkte, dass der von ihm bekämpfte herrschende Liberalismus „ein zu kaltes Prinzip ist, um die Massen in Bewegung zu setzen“. Doch bei den Evangelikalen / Puritanisten fehle „eine intellektuelle Grundlage, eine innere Idee, ein Prinzip der Einheit, eine Theologie“.
Übersetzung des Textes aus der Apologia Pro Vita Sua von Kardinal Newman durch Maria Knöpfler, 1922.